Architektur in Portugal
Überblick über Portugals historische Architektur
Schon die Menschen der Jungsteinzeit hinterließen 5.000 Dolmen – die Anta Arcainha – im Westen der Pyrenäen-Halbinsel. Das 800-jährige Portugal ist reich an historischer Architektur. Dieser Überblicksartikel ist für Interessierte gedacht, die die auf unserer Website zitierten Bauten zeitlich einordnen und in ihren Merkmalen miteinander vergleichen möchten.
Spuren des antiken Rom auf der Iberischen Halbinsel
Die Antike betrifft die Ära von 800 vor Christus bis 600 unserer Zeit im Mittelmeerraum. Schon seit ur- und frühgeschichtlicher Zeit lebten hier die Iberer und vermischten sich später mit den Kelten zu den Keltiberern. Während der Antike bewohnten außerdem die Phönizier, Griechen, Römer und Karthager das Gebiet des heutigen Portugal.
Nur wenige Ruinen sind davon erhalten geblieben wie die 139 vor Christus von den Römern eroberte Stadt Conímbriga, nahe Coimbra, in der Region Centro. Der auf etwa das 1. Jahrhundert nach Christus datierte römische Tempel von Évora, 130 Kilometer östlich von Lissabon, ist ein Beispiel für die Architektur der Lusitaner – eines indoeuropäischen Volkes in der iberischen römischen Provinz »Hispania Lusitana«.
Präromanische Baukunst
Die Architektur der Vorromanik prägte die Pyrenäen-Halbinsel im frühen Mittelalter, vom 5. bis circa 12. Jahrhundert. Sowohl bei den westgotischen Bauwerken als auch der Architektur der Mozaraber, der islamisierten Westgoten (Visigothen), lassen sich schon die Formen der Romanik erahnen: Kirchtürme, Kreuzgänge, Vierungen und Westwerke.
Die 912 errichtete Kirche São Pedro, im nordportugiesischen Lourosa, verfügt über westgotische und mozarabische Züge. Dazu gehören die von Westgoten erfundenen und von Mauren weiterentwickelten Hufeisenbögen. Die quaderförmigen Mauersteine, zu einer einfachen Architektonik zusammengefügt, und der wenige Kirchenschmuck sprechen für eine westgotische Einordnung. 100 Kilometer weiter südlich besitzt Coimbra das auf das 12. Jahrhundert datierte Mozarabische Tor: die Porta Moçárabe.
Romanische Kirchen und Burgen im heutigen Portugal
Die Ära der Romanik verlief von 1000 bis ins 13. Jahrhundert hinein. Die meist sakralen Bauten, nach dem Vorbild einer römischen Basilika, besitzen massive Granitmauern mit vergleichsweise engen Fensteröffnungen für die Rundbogenfenster. Die nordportugiesische Touristikroute »Rota do Românico« zeichnet sich durch einen besonderen Reichtum an romanischen Bauten aus – am Douro und seinen Nebenflüssen Sousa und Tâmega entlang.
Steht man in einer romanischen Kirche, wirkt sie kühl und eher streng auf einen. Die Grundrisse sind geometrisch einfach und die Horizontalen betont. Die Gewölbe und Wände sind noch nicht optimal zusammengefügt. Gleichwohl besitzen die Gebäude Strebepfeiler und Rippengewölbe. Den zugrundeliegenden Konstruktionsansatz nennt man ‚additives System‘. Ausgangspunkt waren die verschiedenartigen Räume, die die Baumeister ähnlich einem Baukastensystem zusammensetzten. Daraus resultierte die Gesamtarchitektur. Änderungen während der Bauprozesse brachte man in Gebäudeteile ein und beachte nicht immer die Komplexität des Ganzen.
Mittelalterliche Gotik und die erste portugiesische Nation
Die von Paris ausgehende Gotik dauerte von circa 1140 bis 1500. Graf Alfons I. von Burgund hatte 1135 den Treueeid gegenüber seinem Lehnsherrn Alfons VII. von León abgelehnt. Nach dem Sieg über die muslimischen Almoraviden, 1139, ernannte sich Alfons I. zum König von Portugal. Die portugiesische Nation erhielt 1143 mit dem Vertrag von Zamora ihre Unabhängigkeit, die Papst Alexander III. 1179 offiziell bestätigte. In einer Urkunde findet sich ein Eintrag über die Schenkung der gotischen Königlichen Abtei von Alcobaça 1153 an den Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux.
Die Kathedralen wie die 1204 in Évora geweihte waren DIE Neuentwicklung in der Gotik. 1294 ging Portugal den ersten Handelsvertrag mit England ein. Man entlehnte fortan Konstruktionselemente wie Rippengewölbe aus der normannischen Architektur und kombinierte diese mit aus dem Burgund stammenden Spitzbögen. Flexible Kreuzrippengewölbe ermöglichten gerade Seitenwände mit großen Glasfenstern, die eine religiöse Atmosphäre während der Liturgien hervorbrachten:
»Alles, was zu den kirchlichen Gottesdiensten, Dingen und Schmuck gehört, ist voller göttlicher Zeichen und Geheimnisse.«
(Durandus von Mende, 1230-1296)
Das neue Bauhüttenwesen, mit dem das Zusammenspiel der verschiedenen Handwerkszünfte und Bauprozesse organisiert wurde, ermöglichte neue Höhen und komplexere Bauten. Das Wachstum der Städte brachte prestigeträchtige Bürgerhäuser und Rathäuser hervor wie das gotische Rathaus im nordportugiesischen Guimarães aus dem 14. Jahrhundert – der ersten Hauptstadt Portugals.
Portugals kulturelle Blüte – die Renaissance
Mit dem Ende des Spätmittelalters, gegen 1500, begann die Frühe Neuzeit, zu der die vom 15. bis ins 16. Jahrhundert sich erstreckende Renaissance gehört. Auf dem Weg zu einer Kolonialmacht übernahm Portugal ab 1415 Ceuta, 1419 Madeira und 1427 die Azoren. Ein Jahr später ermittelte Vasco da Gama die Schifffahrtsroute nach Indien.
Der zunehmende Reichtum des portugiesischen Königs und des Adels durch den Sklavenhandel und Gewürzhandel schlug sich in einer üppigen Architektur nieder. Die Klasse der Kaufleute entstand. Portugal wurde ein starker Magnet für ausländische Künstler. Die portugiesische Renaissance folgte zunächst wenig den italienischen Vorbildern, sondern kombinierte einen weiterentwickelten spätgotischen Formenstil mit portugiesischen Spezifika – der Manuelinik. Erst ab 1540 nahmen die Baumeister italienische und spanische Einflüsse auf.
Lateinische und altgriechische Lehnwörter hatten die portugiesische Sprache komplexer werden lassen, wie die Gedichtsammlung »Cancioneiro Geral« von 1516 belegt. Lissabon, Coimbra und Évora wurden die portugiesischen Mittelpunkte der Renaissance.
Noch am Ende des Goldenen Zeitalter und dem Fall König Sebastian I., 1578, in der Schlacht von Alcácer-Quibir, entstand 1596 aufwendig die Lissaboner Jesuitenkirche Igreja de São Roque – unter Federführung des Italieners Filippo Terzi und der Portugiesen Afonso und Bartolomeu Álvares. Ihre vierte, Johannes dem Täufer gewidmete Kapelle ist eine der schönsten katholischen unseres Globus‘. Extra gebaut und geweiht in Rom, wurde sie in Einzelteilen nach Lissabon verschifft.
Exkurs: Die portugiesische Manuelinik – einmalig auf der Welt
Der prunkvolle manuelinische Stil war wegen seiner Einzigartigkeit auf unserem Erdball die bedeutendste Richtung innerhalb der portugiesischen Renaissance. Im frühen 16. Jahrhundert setzten die Baumeister diese komplexe Dekorationsform für Fenster, Wände und Portale ein. Manche Kunsthistoriker ordnen die Manuelinik in die Spätgotik ein; andere bezeichnen sie als ersten Kolonialstil Portugals. Zudem lehnt sie sich leicht an die klassische Antike an.
Symbolische Bezüge zu den prestigeträchtigen Themen jener Zeit wie zur Seefahrt von Pedro Álvares Cabral nach Brasilien (1500) und zur Astronomie, die dafür wichtig war, charakterisierten die Manuelinik: Die Armillarsphäre war das königliche Motiv Manuel I. für sein Ringen um die Weltherrschaft. Auf den Pfeilern der westportugiesischen Klosterkirche Convento de Jesus in Setúbal finden sich gedrehte Schiffstaue, ebenso im Kapitelsaal des Christusklosters in Tomar in der Region Centro. Menschliche und tierische Motive, Korallen, Fantasiewesen der Ozeane und Pflanzen sind rund und weich gehalten – im Gegensatz zu den spitzen und hohen Formen der Gotik.
Einer der Begründer der Manuelinik war der Architekt Diogo de Boitaca, der die 1510 fertiggestellte Klosterkirche Jesu von Setúbal geplant hatte. Diogo und Francisco de Arruda entwarfen den 1521 eröffneten Leuchtturm: Torre de Belém in Lissabon.
Von Italien nach Portugal: Barock und Rokoko
Von Italien ausgehend, brachte der Barock zwischen etwa 1600 und 1760/1770 eine überschwängliche Architektur voller Gefühle und Herrlichkeit hervor: Schreiner fertigten für die Altäre hölzerne Schnitzereien, und die Baumeister ließen sie mit Blattgold zwischen 100 Nanometer und einem Mikrometer Dicke überziehen. »Talha dourada« ist der Name der Portugiesen für solche Goldschnitzereien.
Sie kombinierten sie mit Azulejos, den Fliesenbildern. So leuchtet der im 17./18. Jahrhundert neu aufgebaute Choralter der Kathedrale von Porto blau, weiß und goldfarben. Auch in der Kirche São Francisco in Porto triffst du auf vergoldete Holzfiguren, die für die Umgestaltung der einstmals gotischen Kirche im 17./18. Jahrhundert sprechen. Porto ist DIE Barockstadt und ihr historisches Zentrum UNESCO-Weltkulturerbe.
Es war üblich, dass die barocken Baumeister aus ganz Europa zum Studium nach Italien gingen. Zurück kamen sie mit frischen Ideen für die Möblierung: Noch nie dagewesene Kabinettschränke, Bettenhimmel und Samtpolster würden das Interior aus farbigen Marmor und Granit vervollkommnen. Auch die Kunstmaler handwerkten verspielt mit Scheinarchitektur und Illusionsmalereien in den Gotteshäusern.
Ab 1700/1730 wandelte sich die Expressivität des Barock in einen sanften Rokoko um. Neben schweren Wandteppichen findest du Seide zur Mauerverkleidung und als Stuhlbezüge. Gleichmaße traten zugunsten asymmetrischer Verzierungen zurück.
Der Neoklassizismus – eine Chance für Portugals Hauptstadt
Das portugiesische ‚Neoclassicismo‘ entspricht dem deutschen Begriff des ‚Klassizismus‘. Die Architekturepoche zwischen 1770 und 1840 erinnert an antike, vor allem griechische Gebäudeformen sowie italienische Stile der Frührenaissance. Die einstmals starke Kolonialmacht Portugal war nach dem Lissaboner Erdbeben 1755 geschockt in die Ära des Neoklassizismus eingetreten.
85 Prozent der Hauptstadt mit seinen manuelinischen Bauten war zerstört und der König fortan klaustrophobisch. Während er dem Marquês de Pombal, ab 1756 Erster Minister Portugals, den Wiederaufbau der Innenstadt im Schachbrettmuster befahl, wohnte er zeitlebens in einer Zeltstadt vor der Stadtgrenze Lissabons. Im Gegensatz zu den 30.000 bis 100.000 Todesopfern hatte er überlebt. Seitdem gibt es sehr viele klassizistische Gebäude in Lissabon, zum Beispiel das 1793 eröffnete Opernhaus Teatro Nacional São Carlos. 1807 eroberte Napoleon die wiederaufgebaute Stadt, und die brasilianische Kolonie wurde 1822 unabhängig.
Historismus und Belle Epoque
Der Historismus ist ein Rückgriff auf vergangene Architekturstile, die die Baumeister oft im Vornherein kombinierten. Dieser Eklektizismus bestimmte das 19. Jahrhundert und Teile des 20. Jahrhunderts. Die Kirche blieb neben dem Adel der größte Auftraggeber, zum Beispiel für die stark neugotisch geprägte Igreja de Nossa Senhora in Fátima (1934), 130 Kilometer nördlich von Lissabon. Zunehmend weltliche Bauten für die neue Bürgerschicht und den Adel bestimmten das Stadtbild. Ein Beispiel für die Wohnhäuser und Paläste ist das 1887 als königlicher Sommerpalast fertiggestellte Palácio Hotel do Buçaco in Luso – mit neo-manuelinischen Zügen.
Die dominante Stilrichtung des Parlamentsgebäudes Palacio São Bento hingegen ist neoklassizistisch, erkennbar an seiner Säulenfront. Miguel Ventura Terra (1866-1919), viermaliger Preisträger des portugiesischen Architekturpreises Premio Valmor, zeichnete für die zahlreichen Umbauten des ehemaligen Benediktinerklosters verantwortlich. Um die Jahrhundertwende, zwischen 1884/1890 und 1914, zeigte sich die Belle Epoque – in einer politisch unruhigen Zeit in Portugal. Das Land wurde 1891 bankrott, und ihr letzter König, Emanuel II., ging 1910 ins Exil.
Der Baumeister Ventura Terra hatte von seinem Architekturstudium in Paris das Wissen von Beton, Eisen, Stahl- und Glas-Konstruktionen mit nach Lissabon gebracht. Die Hauptstadt bekam breitere Straßen, und in den Häusern spiegelte sich die Standesordnung wieder: Die Erdgeschosse wurden Geschäfte, die Beletage über dem Zwischengeschoss Balkone. Darüber findest du drei Etagen mit Erkerfenstern und das Attikageschoss mit seinen Galerien und Dachgärten.
Jugendstil in Portugal
Die im Portugiesischen ‚Arte Nova‘ genannte Neue Kunst zeigte sich von 1896 bis 1920 in dekorativen Fassadenelementen und bei der Innengestaltung. Sie verbreitete sich zeitverzögert in Portugal, gegenüber dem übrigen Europa. Auf Leuchten, Fenstern und schmiedeeisernen Balkonen erschienen pflanzliche Verzierungen. Zu in Stein gehauenen Blumendekors kamen Schleifenmotive und geometrische Ausschmückungen.
Das westportugiesische Aveiro ist mit seinen innerstädtischen Jugendstil-Gebäuden ein Besuchermagnet. Dazu zählen das Museu da República, das Casa do Major Pessoa und das Edifício da Casa dos Ovos Moles. Für Porto-Besucher, nur 75 Kilometer nördlich, empfiehlt sich, die Fassade des Café Majestic anzuschauen und für Lissaboner den Eingang des Rossio-Bahnhofes – sie sind eine Augenweide.
Fazit: Portugals historische Baukunst spiegelt die kulturelle Vielfalt auf der Pyrenäen-Halbinsel im Verlaufe seiner Jahrhunderte. Gleichzeitig nahm sie Strömungen aus Italien, Griechenland und Frankreich auf und verband sie, wie im Falle der Manuelinik, mit einer weltweit einzigartigen Formensprache. Nicht nur Aveiro, Coimbra, Évora, Fátima, Guimarães, Lissabon, Porto, Sintra und Tomar laden dich ein, durch ihre abwechslungsreiche Architekturgeschichte zu stöbern. Welcher Ort reizt dich, um ihn zu entdecken?