Literatur in Portugal
Geschichten aus Portugal – von Pessoa bis Saramago
Das südwesteuropäische Portugal hat im 20. Jahrhundert verschiedene Gesellschafts- und Staatsformen durchlaufen: die Monarchie (bis 1910), die Erste Republik (1910–1926) und den Estado Novo (eine faschistische Diktatur unter Salazar, 1933–1968, bzw. Sateano, 1968–1974). Die Nelkenrevolution, 1974, war Portugals Wende zur Parlamentarischen Demokratie, die seit 1976 besteht.
Der Dichter Fernando Pessoa und der Romancier José Saramago sind Beispiele für zwei großartige Schriftsteller, die diese Zeiten gelebt und in ihren Werken verarbeitet haben. Ihr Leben überschnitt sich nur um 15 Jahre miteinander. In diesem Essay stehen sie im Fokus, um dir Auskunft zu geben, über die wechselvolle Kultur und spannende Literatur Portugals der letzten 130 Jahre.
Die Lebensjahre von Fernando Pessoa (1888–1935)
Seine Kindheit verbrachte Pessoa während der Monarchie. Als er drei Jahre alt war, wurde sein Land bankrott. Mit fünf Jahren verlor er seinen Vater und zog mit seiner Mutter zu seinem Stiefvater nach Südafrika. Wieder in seiner Heimatstadt Lissabon, studierte er Literatur. Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Angestellter eines Handelshauses. Politisch war er antidemokratisch eingestellt. 1926 putschte das Militär, und Pessoa erlebte die Anfangsjahre der Salazar-Diktatur. Als 47-Jähriger starb er an den Folgen seines Alkohol-Konsums.
Der Hobby-Dichter Pessoa
Der Autor war, betrachtet man, womit er seine materielle Existenz sicherte, ein Hobby-Schriftsteller. Er war mit der britischen Literatur vertraut und schrieb in Portugiesisch und Englisch. Ein kleiner Kreis von Freunden zollte ihm für sein künstlerisches Schaffen Anerkennung.
Nach seinem Tod fand man 24.000 Fragmente, darunter viele Zettel und Notizbücher, mit Beobachtungen und Tagebucheinträgen, aus der Zeit als 25-Jähriger bis zu kurz vor seinem Tod. Er hatte Übersetzungen getätigt und über Politik und Soziologie geschrieben. Einige seiner Gedichte hatte er in Zeitschriften publiziert.
Was Ricardo Reis mit Fernando Pessoa zu tun hat
Zu Lebzeiten waren Pessoas Texte von außen kaum mit ihm in Verbindung zu bringen. Er fühlte sich wie ein vom Himmel gefallenes Wesen, das die Dinge bestaunt.
Das »winzig Kleine« zog ihn an, und diese Genauigkeit zeigte sich in seinem Schaffen: Er benutzte literarische Doppelgänger, auch als Heteronyme oder Alter Ego bezeichnet. Seine Heteronyme kleidete er teilweise mit eigenen Lebensgeschichten aus. So war Ricardo Reis, zum Beispiel, die Figur eines portugiesischen, in Brasilien tätigen Dorfarztes. Die Alter Egos Pessoas sprachen manchmal, in seinen Werken, mit dem Schriftsteller und wechselten untereinander ihr Angesicht.
Unter den mindestens 72 Heteronymen und Pseudonymen schrieb er einen Großteil seiner Texte, bis auf die Verse-Sammlung »Mensagem« («Botschaft«, 1934, Portugiesisch).
Den geringen Publikationsgrad seiner Texte führt der Übersetzer Steffen Dix auf Pessoas Priorisierung seines Schreibens gegenüber dem Veröffentlichen zurück. Die Texte landeten in der Truhe. Außerdem konnte ein Großteil der damaligen Bevölkerung Pessoas phantasievolle Schriften nicht lesen oder verstand ihn schwer, wenn er sich wie folgt ausdrückte:
»Wir lieben niemals irgendjemanden.
Wir lieben ganz allein die Vorstellung, die wir uns von jemandem machen.
Unsere eigene Meinung – letztlich also uns selbst – lieben wir.«
Die postume Berühmtheit Pessoas
Heute ist Pessoa eine Identifikationsfigur Portugals. Das ‚heute‘ begann 1982, als eine große Fragmentsammlung von ihm als das »Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernard Soares« in Portugal erschien. Das Besondere an seiner Literatur war sein freies Denken. Der Autor ging spielerisch mit Sprache um, wenn er portugiesische Identitäten und Lebensumstände beschrieb sowie den Umgang seiner Mitmenschen damit. Nicht nur die Textinhalte und -typen des Schriftstellers waren vielfältig. Seine breite postume Anerkennung basiert auch auf seiner geistigen Virtualität.
Das Leben des José Saramago (1922–2010)
Dieser portugiesische Schriftsteller entstammt einer Landarbeiterfamilie. Nach dem Umzug seiner Eltern in die Hauptstadt verbrachte er immer wieder die Ferien bei seinen Großeltern auf dem Land. Die Republik konvertierte in eine Diktatur. In »Kleine Erinnerungen« (2006, Portugiesisch), seiner die Kindheit und Jugend umfassenden Autobiografie, beschrieb er die ländliche Armut und seine glücklichen Momente. Der Landstrich des Alentejo und seine Lebenserfahrungen darin prägten die Art Saramogas zu schreiben.
»Ich mag Anzug und Krawatte tragen,
aber eigentlich bin ich ein Dorfmensch.
Ich gehöre mehr zu den Leuten und der Landschaft
meines Geburtsortes Azinhaga als zu Lissabon.«
Die erste Lebenshälfte bestritt Saramago zunächst in technischen Berufen, als Maschinenschlosser und technischer Zeichner. Anschließend arbeitete er zunehmend mit Texten, und zwar mit den Texten Anderer, als Angestellter im sozialen Bereich und Verlagsmitarbeiter. Schließlich wurde er Journalist. 1966, da war er schon 44, brachte er sein erstes Buch heraus: »Os poemas possiveis« (»Die möglichen Gedichte«).
Das Schreiben, die Liebe und der Tod
Der vor allem für seine Romane berühmte Saramago verfasste auch Dramen, Erzählungen, Essays, Gedichte und Reisebeschreibungen. In »Hoffnung im Alentejo« (1980) beschrieb er das arbeitssame Hungerleben im portugiesischen Landesinneren vor der Nelkenrevolution (1974) anhand des kommunistischen Lohnarbeiters João Mau-Tempo.
In »Das Memorial« (1982) veranschaulichte Saramago den (un-)menschlichen Aufwand bei der Errichtung eines unvergleichlichen Monuments für den inquisitorischen König. Die Arbeiter zogen ihre ausgehenden Kräfte immer wieder aus Heilserwartungen und magischen Beschwörungen.
Das in der Rezension als »sprachgewaltig« wahrgenommene Buch »Die Stadt der Blinden» (1995) war selbst als Verfilmung anspruchsvoll zu verarbeiten und führte zu Diskussionen. Die Geschichte ist wie ein Gleichnis für eine Gesellschaft, in der peu á peu die Menschen krank werden und das Land aufhört zu funktionieren. Saramago inszenierte literarisch eine Ghettoisierung der als behindert eingestuften Menschen.
Insgesamt verfasste der Romancier 22 Romane und Novellen. Eines seiner letzten Werke lautete: »Eine Zeit ohne Tod« (2005). Über seinen Antrieb hatte er einmal gesagt:
»Die Literatur und die Liebe sind die Zauberformeln gegen den Tod.«
Lange hielt seine innere Beschwörung: Saramago wurde 87 Jahre alt.
Anziehung und Abstoßung
Saramago zieht an. Er bezog sich auf Pessoa, den großen portugiesischen Dichter. Er nahm dessen literarischen roten Faden wieder auf, der mit seinem Tod 50 Jahre zuvor geendet hatte. Damit schuf er eine Kontinuität unter portugiesischen Schriftstellern, sich über ihre Heimat, ihr Leben und ihr Umfeld ausdrucksstark und unkonventionell auszudrücken. Saramago wurde wie Pessoa erst in den 1980er Jahren berühmt. Im Gegensatz zu ihm hatte er da das Glück, sein 60. Lebensjahr zu erleben.
Im Leben Saramagos finden sich zahlreiche, menschliche Widersprüche, und er rief auch bei anderen Menschen Ambivalenzen hervor. Er drückte sich zuweilen dunkel und bedrückt aus und missachte Rechtschreibregeln. So näherte er die Form mancher Texte (z.B. »Die Stadt der Blinden«) ihrem Inhalt an.
Er fühlte sich intensiv mit seinem Land verbunden, gleichzeitig befürwortete er eine staatliche Gemeinschaft mit Spanien. Als Alterssitz wählte er mit seiner Frau ein spanisches Exil: Lanzarote. Dieses war sein Protest gegen den Vorwurf, er, der Atheist und Künstler, zeigte mit »Das Evangelium von Jesus Christus« (1991) keinen Respekt vor der christlichen Religion. Die spanische Regierung strich ihn von der Nominierungsliste für den Europäischen Literaturpreis.
Endlich ein Portugiese als Literatur-Nobelpreisträger
Das Nobelpreis-Komitee sprach von einer eigenen »Romankunst« Saramagos. Viele seiner Texte erfüllen die Romankriterien wie: Länge, Fiktion und Subjektivität. Gleichwohl stellen Romane eher eine vielschichtige, offene und sich stetig weiterentwickelnde Prosaform denn eine homogene Literaturgattung dar. Das Eigene in Saramagos Romanen sind seine Sinnbilder und Empathie:
»Die heutige Zivilisation ist immer weniger menschlich,
stattdessen gleicht sie zunehmend einem Eisblock«.
Die Texte spiegeln seine Haltung als »gut informierter Optimist« und kritischer Realist wieder. Auf seine große Vorstellungskraft und Vielschichtigkeit trifft man beispielsweise bei seiner Verarbeitung eines Stoffes und Heteronyms von seinem verstorbenen Schriftstellerkollegen Pessoa. »Das Todesjahr des Ricardo Reis« (1984) nannte Saramago seine Rezeption.
Der Literat machte verschwindende Realitäten, wie z.B. der Landschaften und Szenen seiner Kindheit oder der Menschlichkeit, zum Gegenstand. Trotz der Schwere seiner Stoffe war er humorvoll, manchmal von schwarzem Humor getrieben, und gelassen. Zu den Filmkritiken von »Die Stadt der Blinden« verlautete er:
»Ach was, ich habe ein dickes Fell«.
Die Literatur Portugals besitzt frühe Wurzeln: Bereits im 9.-12. Jahrhundert berührten die »cancioneiros« (Liebeslieder) die Menschen. Gil Vicente (1465–1536) begründete mit seinen Bühnenspielen das Theater in Portugal. Luís Vaz de Camões brachte 1572 das Epos »Os Lusíadas« (»Die Lusiaden«) heraus. Das Land war sowohl aufstrebende Kolonialmacht (1495–1580) als auch spanische Provinz (1580–1640).
Heute strahlen die Portugiesen wieder Stolz aus. Daran haben zwei sehr verschiedene Persönlichkeiten einen großen Anteil: die Schriftsteller Pessoa und Saramago. Für beide war Schreiben ihr Lebenselexier. Anerkennung hatten sie zu Lebzeiten dafür kaum bekommen (Pessoa) oder sehr spät (Saramago). Sie gehörten mit ihren phantasievollen und komplexen Gedichten und Romanen zur geistigen Elite. Zugleich blieben sie gefühlsmäßig verwurzelt in Portugal.