Die Nelkenrevolution und ihre Spuren im heutigen Portugal
»Das Volk regiert« – der Tag X
»Grândola Vila Morena« spielte im Radio. Vasco Lourenço lauschte sehr aufmerksam diesem Lied. Vor ein paar Wochen noch sollte er aufspringen, auf dieses geheime Signal hin, und sich aufmachen zur Erstürmung des Lissaboner Flughafens und seiner Ministerien. Starkes Herzklopfen spürte er. Das Adrenalin schoss in seinen Körper. Er blieb sitzen, beherrscht. Die alte Caetano-Regierung hatte ihn, wie andere Offiziere, vor einigen Wochen versetzt, auf die Azoren, 1.400 Kilometer entfernt, in den Atlantik.
Der Sturm ging dennoch los. Seine bewaffneten Kollegen unter Führung der Generäle Spínola und Costa übernahmen die zentralen Plätze und Radiostationen in ganz Portugal. Innerhalb von 18 Stunden zwang die putschende Bewegung der Streitkräfte (Movimento das Forças Armadas) ihren Ministerpräsidenten ins Exil, nach Brasilien. Vier Tote gab es, hörte Lourenço, als Demonstranten auf aggressive Regierungstruppen trafen.
Die Nelkenrevolution am 25. April 1974 war ein geplanter, fast ohne Widerstand vollzogener Umsturz. Zukunftsorientierte Generäle und junge Offiziere, die von den Kolonialkriegen genug hatten, hatten sie gewagt. Die Bevölkerung lief auf die Straßen, anstatt wie geheißen, in den Häusern zu verbleiben. Die symbolische Geste, mit der eine Frau einem Soldaten eine Nelke in den Gewehrlauf steckte, verhalf der Revolution zu ihrem Namen.
Die portugiesische Wirtschaft hatte sich zu diesem Zeitpunkt in einer Misere befunden. Für die Regierungspolitik einer Fortführung der Kolonialkriege mit Guinea, Mosambik, den Kapverdischen Inseln, São Tomé e Principe sowie Angola, die nach Unabhängigkeit strebten, hatte es immer weniger Unterstützer gegeben. Gescheitert waren die Versuche oppositioneller Parteien, sich 1958 und 1961 an der Macht zu beteiligen.
Lourenço wusste die Fortführung der aktuellen Entwicklung Portugals in guten Händen. Er war dabei gewesen, als sie eine Kommission zusammenstellten, zur Entwicklung eines politischen Programmes für die Zeit nach der Revolution. Ziel war, was der verbotene Sänger (Zeca Afonso) in dem Revolutionslied gesungen hatte:
»O povo é quem mais« (»Das Volk regiert«)
Portugal unter Salazar
Die älteste europäische Nation, Portugal, war über 500 Jahre Kolonialmacht gewesen, und länger noch, als Frankreich und England, zum Beispiel über:
- Mosambik: bis zum 25. Juni 1975 und
- Angola: bis zum 11. November 1975.
Eine kleine Oberschicht unter den Portugiesen hatte im Wohlstand gelebt, zum Beispiel die Großgrundbesitzer über die Tausenden Olivenbäume in der Region Alentejo. Um seine Macht zu erhalten, hatte Portugal Kolonialkriege geführt, in Höhe von knapp der Hälfte seines Staatshaushaltes. Finanziell lukrativ erschienen diese der Salazar-Regierung, wegen der umkämpften Bodenschätze (unter anderem Erdöl in Angola). Sie stellte die jungen Wehrpflichtigen dazu ab, zwei Jahre ihres vier Jahre dauernden Wehrdienstes in den Kolonien abzuleisten.
Journalisten und Schriftsteller wie António Lobes Antunes waren der Zensur unterworfen gewesen. Viele Menschen waren so mit ihrer Existenz, zum Beispiel mit der Sicherung von Nahrungsmitteln, beschäftigt, dass sie für metaphysische Fragen kein Interesse zeigten. Lohnarbeit auf dem Feld der Wohlhabenden war Alltag. Ein Drittel der Portugiesen konnte nicht lesen und schreiben. Die Kindersterblichkeit und die Rate an Auswanderern waren die höchste in Westeuropa.
Der von 1933 bis 1974 existierende Estado Novo (Neue Staat) unter António de Oliveira Salazar war paternalistisch (die Bürger bevormundend), faschistisch (totalitär, rechtsradikal und antidemokratisch) und ein Ständestaat. ‚Ständestaat‘ meint einen Staat, dessen Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe (z.B. katholischer Kirche, Großgrundbesitz) sich durch Geburt erschließt und der sich, wie in Portugal, gegen einen Parteienpluralismus gewendet hatte. Marcelo Caetano war ab 1968 Premierminister und der Nachfolger Salazars gewesen.
Die Staatsschutzpolizei PIDE, nach dem Vorbild der Gestapo organisiert, hatte die Opposition kontrolliert. 1965 tötete sie den aus dem Exil zurückgekehrten Kandidaten der liberalen Partei: Humberto Delgado.
Nach der Revolution: positive und schwierige Entwicklungen in Portugal
Das pluralistische Land hatte ab 1974 seine erste Probe zu bestehen. Das Zweckbündnis der Revolutionszeit, aus konservativ, sozialistisch und links eingestellten Oppositionellen, war nun frei, sich neu zu formen. Die Bildung einer Regierung stand an. Unterschiedliche Interessen, zum Beispiel zur Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit, sollten berücksichtigt werden. Ein Putschversuch konservativer Militärs gegen die Linksregierung, am 11. März 1975, kennzeichnet diese zerbrechliche Phase.
Der Name von Vasco Gonçalves steht für die Verstaatlichung von Großgrundbesitz. Der Wegbereiter für eine Agrarrevolution war er. Der frühere General war von 1974 bis 1975 Ministerpräsident der provisorischen Regierung.
1976 wurde Mário Soares der erste demokratische Präsident Portugals. Die portugiesische Verfassung gilt als eine der fortschrittlichsten unter den europäischen Ländern.
Die Zensur gab es nicht mehr. Dennoch fehlten lange Zeit neue und unangepasste Bücher in Portugal: Die Autoren brauchten Zeit, um wieder zu Authentizität und zu Alltagsthemen sowie zum Heute zurückzukehren.
Nach dem 25. April 1974 konnten die Bürger frei und spontan das Ausland bereisen. Sie brauchten nicht mehr für jede Reise einzeln Papiere zu beantragen und Geld zur Sicherheit bei einer portugiesischen Bank zu hinterlegen.
Für die aus den ehemaligen Kolonien zurückgekehrten Portugiesen war es schwierig, sich in dem neuen Portugal einzufinden. 200.000 kamen, zum Beispiel, von den Kapverden zurück. Um Lissabon herum existieren Gegenden, in denen sich die Retornados genannten Menschen mit einfachen und provisorischen Mitteln neue Unterkünfte erbauten.
Manche Bürger sahen die neue Gesellschaftsordnung als negativ für sich an. Der Schriftsteller António Lobes Antunes zeichnet in seinem »Handbuch der Inquisitoren« beispielhaft das Bild eines Ministers unter Salazar nach. Für die Romanfigur sind der Umsturz und der verlorengegangene Einfluss sein persönlicher Einbruch. Lobes Antunes beobachtete:
»Die Oberschicht sah die Nelkenrevolution als ein schreckliches Unglück.«
Erinnerungspolitik
Der portugiesische Umbruch von 1975 erfüllt alle Bedingungen einer Revolution, wenn man die des Dudens ansetzt. Er war ein: »auf radikale Veränderung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichteter, gewaltsamer Umsturz«.
Einige seiner Veränderungen waren nicht von Dauer, zum Beispiel die Agrarreform. Sie sollte im Hinblick auf eine ehemals sozialistisch geplante Gesellschaft ohne Entschädigungen für die zu enteignenden Großgrundbesitzer auskommen. In Zusammenhang mit dem für das Land wichtigen EU-Beitritt 1986 und dem Erhalt von IWF-Krediten wurden gleichzeitig Reprivatisierungen und Entschädigungszahlungen getätigt.
Für die Opfer des Estado Nuevo richtete die neue Regierung eine Möglichkeit ein, sich rehabilitieren zu lassen. 1994 verabschiedete sie das PIDE-Aktenöffnungsgesetz.
Die mit 2,3 Kilometer weltweit drittlängste Hängebrücke für den Zug- und Straßenverkehr über dem Tejo trug ehemals den Namen des Diktators. Heute heißt die von den Portugiesen schlicht ‚Ponte‘ genannte Brücke offiziell: Ponte 25 de Abril, nach der stärksten positiven Umwälzung Portugals im 20. Jahrhundert.
Die Erinnerungen an die Diktatur verblassen. Gleichzeitig verzögert sich erheblich das geplante Widerstandsmuseum der Schwarzbuchkommission für Faschismus. Mit Dokumenten zur Zensur, zur Korruption in der Zeit Salazars und der Misshandlung politischer Gefangener möchte die Stätte über die totalitäre Zeit aufklären. Im Gegenzug verzeichnet leider auch die Eröffnung eines geplanten Salazar-Museums Sympathisanten.
Ausblick
Portugal schaffte vor 44 Jahren den Systemwechsel von der Diktatur in eine Demokratie. Nicht alle positiv angesetzten Veränderungen hatten Bestand. Das Land ist ein Auswanderungsland. Auszuwandern verbinden die Menschen damit, neu Hoffnung zu schöpfen. Lobes Antunes formulierte das Dilemma seines Heimatlandes 1997 wie folgt:
»Portugals Drama ist, dass es keine demokratische Tradition hat. Die Parteien wurden nach ausländischem Vorbild gegründet. Die Abgeordneten fühlen sich nicht den Wählern verantwortlich, sondern nur der Partei, die sie aufstellt. Programme sagen den Portugiesen wenig. Sie haben gelernt, den Worten Vaterland, Ehre, Ruhm zu misstrauen, auf die sich auch die Tyrannei berief.«
Wünschen wir den Portugiesen, dass sie ihren Weg gehen, ohne Vorgaben. Vielleicht haben sie uns damit etwas voraus.
Bild: Henrique José Teixeira Matos (GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2)
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